wichtige Vorbemerkung
Update 2024
Den untenstehenden Text habe ich ca. 2016 verfasst. Inzwischen habe ich keine Zwangsstörungen mehr. Diese Veränderungen haben sich eingestellt, nachdem ich keine Therapie mehr hatte und ich über lange Zeit sehr viel Ruhe hatte. Ich ließ mich nicht mehr in Situationen bringen, in denen meine Grenzen überschritten wurden. Ich habe mir keinen Druck mehr gemacht, habe meine Komfortzone nicht verlassen und habe lange Zeit jeglichen Stress vermieden. Ich tue nur noch das, was mir guttut! Das hat mich so entspannt, dass ich heute auch nach stressigen Situationen und bei ehemaligen Triggern wach und klar bleiben kann. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich diese Unterseite löschen soll, aber ich habe mich entschieden, das stehen zu lassen, weil es ja ein Teil meiner Geschichte ist. Aber fragt mich bitte nicht, wie das alles möglich ist, das kann ich wirklich nicht beantworten.
Die meisten Menschen kennen das Phänomen, dass man z. B. unbedingt nochmal nachsehen muss, ob der Herd auch wirklich aus ist, obwohl man eigentlich weiß, dass man ihn gerade abgestellt hat. Wenn solche Gedanken und Handlungen nur sporadisch aufkommen, ist das natürlich noch keine Erkrankung und ganz normal. Zu einer Störung wird es erst, wenn durch ständig wiederkehrende Gedanken und Handlungen das Alltagsleben stark belastet wird und die Betroffene darunter leidet. Die Mehrheit der Betroffenen ist sich völlig darüber bewusst, wie skurril und sinnlos ihre Zwänge sind. Und trotzdem ist es sehr schwer dagegen anzugehen und es braucht viel Kraft, Zwänge nicht auszuführen.
In meinem Fall leide ich auch unter verschiedenen Zwangsgedanken und -handlungen. Nur ein kleiner Teil meiner zwanghaften Gedanken und Befürchtungen bewirkt auch eine Handlung. Das meiste spielt sich nur im Kopf ab. Die Besonderheit bei mir ist, dass nicht nur ich "Johanna" unter Zwängen leide, sondern es gibt einen weiteren Anteil in unserem System, der noch viel massiver von einer Zwangserkrankung betroffen ist.
Einen Zwang nicht ausführen zu können oder zu unterdrücken bewirkt bei uns Gefühle von Ekel und Angst und wir reagieren mit Panikattacken und autoaggressivem Verhalten. Das hinterhältige einer Zwangserkrankung ist, dass umstehende Personen mit in den Zwang einbezogen werden. D. h. die Menschen in meinem Umfeld sollen sich meinen Zwängen unterordnen.
Ich weiß, dass meine Zwänge irrational sind. Schon als Kind hatte ich Zwänge, die mich über die Jahre immer mehr gepackt haben. Sie sind wie ein Kobold, der am Gehirn kratzt. Die verschiedenen Zwänge verfolgen keine Regeln d. h. manche Sachen sind zwangbehaftet andere wiederum gar nicht.
Ich erkläre ein paar Beispiele aus meinem Alltag. Ich leide hauptsächlich unter einem Zahlenzwang, Symmetrie- / Ordnungszwang, Waschzwang und zwanghaften Befürchtungen, dass ich Jemandem schade, wenn ich bestimmte Wörter nicht sage.
Die Zahl 3 spielt für mich eine sehr große Rolle. Ein Zahlenzwang zeigt sich bei mir sowohl gedanklich als auch in Handlungen. Gedankengänge muss ich eine gewisse Anzahl wiederholen. Meistens ist es dreimal. Wenn ich mir nicht 100% sicher bin, dass ich es dreimal gedacht oder getan habe muss ich entweder von vorne beginnen oder mir eine andere Zahl suchen, die sich 'sicher' für mich anfühlt. In Handlungen ist die Zahl 3 auch wichtig z. B. beim Kaffee kochen. Jeder Schritt muss dreimal ausgeführt werden, sonst trinke ich den Kaffee nicht. Beim Klopapier müssen es immer drei perfekt gefaltete Blätter sein, ist ein Blatt eingerissen, müssen alle drei Blätter weggeschmissen werden. Ein weiteres Beispiel ist, dass ich 3x die gleiche Stelle mit der komplett identischen Intensität berühren muss.
Ich habe andauernd aufdrängende Zwangsgedanken, die mich glauben lassen, dass jemandem etwas zustoßen wird, weil ich etwas nicht gemacht habe oder nicht 'richtig' ausgeführt habe. Zum Beispiel: Bevor eine Person, die mir wichtig ist, die Wohnung verlässt, sage ich immer "Fahr vorsichtig". Sie muss dann dreimal sagen: "Ich fahr vorsichtig. Ich fahr vorsichtig. Ich fahr vorsichtig.". Das hört sich ja erstmal gar nicht so schlimm an. Wenn die Person sich aber weigert, oder ich vergessen habe, die Person aufzufordern, bricht eine Lawine an Befürchtungen und Grübelei los, bis die Person wieder zu Hause ist. 'Jetzt stirbt sie. Es ist meine Schuld. Sie wird einen Autounfall haben. Meine Schuld. Was tue ich dann? Meine Schuld. Wie werde ich erfahren, dass sie umgekommen ist? Meine Schuld. Wie wird die Beerdigung sein? Meine Schuld...'
Mein Symmetrie- und Ordnungszwang zeigt sich hauptsächlich nur in Zwangshandlungen. Der Faltenwurf der Gardine, die exakte Positionierung von Gegenständen (häufig drei Gegenstände im perfekten Abstand zueinander). Die Anordnung von Essen auf dem Teller. Da ich ja nicht selbstständig meine Beine bewegen kann, müssen im Rollstuhl und auch sonst meine Beine manuell von meiner Angehörigen positioniert werden. Für alles gibt es einen ausgeklügelten Ablaufplan. Das beinhaltet, das Zähne putzen, waschen, Transfer, Bett aufschütteln, die Strippen an den Patientenlifter hängen... Ein einziger Fehler in meinem zwanghaften Ordnungsplan löst viel Chaos und Verzweiflung aus, bis hin zum Krampfanfall. Nicht 'korrekt' ausgeführte Handlungen müssen von Anfang wiederholt werden.
Der Reinlichkeitszwang ist ebenfalls lästig und einer der Zwänge, der am meisten meine Betreuungskräfte mit beeinträchtigt. Nicht nur ich muss mir ständig die Hände waschen, sondern ich verlange das auch von allen anderen. Wenn gewisse Gegenstände mit ungewaschenen Händen angefasst werden, sind sie kontaminiert und müssen ebenfalls gründlich gewaschen werden. Der zwanghafte Anteil aus unserem System hat jedoch noch viel mehr Angst vor Bakterien und Schmutz.
Meine Zwangserkrankung wurde bis jetzt noch nie behandelt, weil andere Diagnosen immer im Vordergrund standen. Ich habe leider das Gefühl, als würden die Zwänge mich immer mehr einschnüren. Sie schränken meinen Alltag und vor allem auch meine Betreuungs-personen ungemein ein.
Wer noch mehr über Zwangsstörungen erfahren möchte kann hier schauen: