wichtige Vorbemerkung
Update 2024
Den untenstehenden Text habe ich 2018 verfasst. Inzwischen kann ich wieder sprechen und bin psychsich gesund. Bis 2021 war ich komplett stumm. Diese Veränderungen haben sich schleichend eingestellt, nachdem ich keine Therapie mehr hatte und ich über lange Zeit sehr viel Ruhe hatte. Ich ließ mich nicht mehr in Situationen bringen, in denen meine Grenzen überschritten wurden. Ich habe mir keinen Druck mehr gemacht, habe meine Komfortzone nicht verlassen und habe lange Zeit jeglichen Stress vermieden. Ich tue nur noch das, was mir guttut! Das hat mich so entspannt, dass ich heute auch nach stressigen Situationen und bei ehemaligen Triggern wach und klar bleiben kann. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich diese Unterseite löschen soll, aber ich habe mich entschieden, das stehen zu lassen, weil es ja ein Teil meiner Geschichte ist. Aber fragt mich bitte nicht, wie das alles möglich ist, das kann ich wirklich nicht beantworten.
Kurze Anmerkung - wem Dissoziationen und Dissoziative Identitätsstörung nicht bekannt sind,
macht es Sinn, sich das vorher durchzulesen.
Mutismus kann auch ein Symptom der Funktionellen Neurologischen Störung sein!
„Da hat es mir die Sprache verschlagen.“
„Die Worte bleiben mir im Hals stecken.“
„Da fehlen einem ja die Worte.“
Die deutsche Sprache kennt einige Redensarten, die den Zusammenhang zwischen Schock, Schreck, Angst und Sprache recht deutlich machen. Für viele ist das nur ein Ausdruck von einem momentanen Schreck, für Mutisten ist das aber ein sehr realer und dauerhafter Zustand.
Im eigentlichen Wortsinn bedeutet Mutismus Stummheit. Das Stummsein hat keine organische Ursache und auch das Hörvermögen ist völlig intakt. Trotzdem sind Betroffene einfach nicht in der Lage, Wörter und Töne auszusprechen. Obwohl die Stimmbänder funktionieren, die Zunge an Ort und Stelle ist und die Lippen sich bewegen, kommt kein Ton heraus – so sehr man das auch möchte. Es ist keinesfalls eine bewusste Verweigerung, eine Suche nach Aufmerksamkeit oder eine Trotzhaltung.
Wenn man von Mutismus hört, dann meist in Verbindung mit Kindern. Kinder sind manchmal so schüchtern oder ängstlich, dass sie in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Menschen einfach nicht sprechen. Zu Hause in der Familie spricht ein Kind vielleicht völlig normal, im Kindergarten bringt es aber kein Wort heraus und bleibt stumm. Das nennt man (s)elektiven Mutismus.
Ein Mensch mit totalem Mutismus ist ausnahmslos stumm, egal in welcher Umgebung. Ich persönlich habe nur Erfahrungen mit dem totalen Mutismus im Erwachsenenalter – und auch nur darüber kann ich schreiben.
Wissenschaftlich ist das Phänomen offensichtlich nicht wirklich erforscht. Häufig ist der totale Mutismus eine Begleiterscheinung anderer psychischer Erkrankungen z. B. Angststörung, Soziale Phobie, Depressionen usw.. Mutismus als Traumafolgestörung ist anscheinend umstritten, liegt für mich aber klar auf der Hand. Eine Reaktion auf schreckliche Dinge, die nicht verarbeitet wurden, kann eben sein, dass man verstummt. Das muss nicht sofort passieren, denn Traumata haben die gemeine Angewohnheit, einen auch Jahre danach einzuholen.
Meine persönliche Mutismus-Geschichte fing 2013 an. Zunächst versagte mir meine Stimme nur nach belastenden Ereignissen oder z. B. nach einem längeren dissoziativen Stupor. Zuerst nur für Stunden, später auch für Tage und selten auch mal länger als eine Woche. 2015 war ich das erste Mal für längere Zeit, über einem Monat, stumm. Die normale Stimme kam nach einiger Zeit immer wieder zurück, aber die Vorfälle fingen an sich zu häufen. Im Sommer 2016 kam mein Hund zu mir, der mich als Assistenzhund unterstützen sollte. Das funktionierte gar nicht und die Zeit mit ihm und auch danach war für mich sehr belastend. Mein Gesamtzustand verschlechterte sich zu der Zeit erheblich. Meine Beine gehorchten mir nicht mehr, ich brauchte einen Rollstuhl und ich verstummte wieder. Von Ende Juni bis Mitte September kam kein Laut, kein Wort mehr über meine Lippen. Auch danach ist meine Stimme nie mehr ganz normal zurückgekommen, ich konnte auch mit großer Anstrengung nur noch flüstern.
Nach besonderen Belastungen war ich dann immer wieder mal für Tage oder Wochen stumm. Im Oktober 2017 kam dann eine E-Mail von meiner damaligen Therapeutin mit lauter niederschmetternden Nachrichten, die mir wieder einmal die Sprache komplett verschlagen hat. Nach dieser Mail habe ich mich nie wieder richtig erholt. Ich verstummte wieder, aber diesmal kam die Fähigkeit zu sprechen bis heute nicht wieder zurück. Egal wie sehr ich mich anstrenge, Laute zu formen, ich schaffe es nicht mehr.
Der Auslöser ist offensichtlich, aber der genaue tiefere Grund dafür ist mir bis jetzt nicht wirklich klar. Ich glaube nicht, dass ich aus Angst verstummt bin, für mich liegt es eher auf der Hand, dass es auch eine Art einer dissoziativen Störung ist. Als eine Multiple Person bin ich ja außerdem noch in einer besonderen, komplizierten Lage. Soviel ich weiß, bin ich in unserem System die einzige, die an totalem Mutismus leidet. Die anderen sprechen flüssig und in normaler Lautstärke, soweit bekannt. Eine Innie sagte allerdings vor kurzem, dass ihr der Hals beim Sprechen weh täte und das es anstrengend sei. Naja, nach einem Jahr des Nicht-Sprechens sind die Stimmbänder nicht mehr in Übung.
Als ich noch sprechen konnte, hatte ich oft Angst vor meiner eigenen Stimme. Ich merkte immer wieder, dass Worte und Gedanken mit meiner Stimme ausgesprochen wurden, die ich nicht als meine eigenen wahrgenommen habe, sondern es fühlte sich fremdgesteuert an. Oft habe ich mich vor ungewollter Aggression in meiner Stimme gefürchtet. Ohne es zu wollen, beschimpfte ich mit dieser Stimme, die aus meinem Körper kam und mit Worten, die mir Angst machten, meine Mutter. Außerdem habe ich deutlich gemerkt, wie weh es tun kann, Dinge, Erinnerungen, Meinungen etc. auszusprechen.
So wie sich das Sprechen oft fremdgesteuert anfühlte, fühlte sich die Verstummung ebenso erzwungen an. Zeigt es vielleicht meine Überforderung mit meiner ganzen Lebenssituation? Sind das innere Vorgänge, die mir nicht bewusst sind? Ist es ein Schutz oder eine innere Bestrafung?
Das Stummsein macht mich noch hilfloser und einsamer als zuvor. Schließlich ist die Sprache der wichtigste Kommunikationsweg. Es war nie eine konkrete Entscheidung von mir.
Das soll nicht heißen, dass ich nicht kommuniziere. Ich kann auf meinem Tablet schreiben (sehr schnell und mit 10 Fingern), auf Dinge zeigen und ich habe gelernt, mit dem Gebärdenalphabet Wörter zu buchstabieren. Außerdem ist meine Körpersprache und Mimik viel aussagekräftiger geworden.
Nach einem Jahr ist diese andere Art der Kommunikation zur Gewohnheit geworden. Die Menschen in meinem engeren Umfeld haben sich auch daran gewöhnt, aus meiner Körper-sprache zu lesen und dass Unterhaltungen, die ich mit meiner Sprach-App führe, einfach etwas länger dauern.
Ich vermisse das Sprechen nicht mehr so sehr, aber das Singen! Ich würde so gerne im Auto sitzen und wie früher laut bei Liedern mitsingen.
Schwierig ist es natürlich auch in Situationen wo ich mich total hilflos fühle oder bin: bei Krampfanfällen, im bzw. nach dem Stupor, also immer wenn ich wirklich in Not bin aber einfach nicht mitteilen kann, was ich brauche. Das macht mir immer große Angst. Meine Mutter als meine Haupt-Pflegeperson versteht mich normalerweise ganz gut, aber besonders wenn ich Schmerzen habe, aber nicht sagen kann was sie machen soll und ich auch körperlich nicht in der Lage bin mich mitzuteilen, ist das schon sehr beängstigend und unangenehm.
Ich versuche oft Töne herauszubringen. Aber ich habe auch Angst davor, meine Stimme wieder zu hören. Wenn ich z. B. spontan lache, weine, niese oder einen Schluckauf habe, mache ich Töne und erschrecke mich immer selber.
Behandelt wird mein Mutismus nicht. Zwar wissen meine Hausärztin, mein Psychiater, meine ehemalige Therapeutin und die Ärzte in zwei Kliniken, dass ich nicht sprechen kann. Keiner von ihnen hat jemals mit mir darüber gesprochen und mich aufgeklärt, ob es eine Therapie gibt oder was man sonst so machen kann. Mein Wissen über Mutismus habe ich mir selber angelesen.
Meine Anfragen nach einem Behandlungsplatz in Psychosomatischen Kliniken wurden in vielen Fällen u. A. deswegen abgelehnt, weil ich ja nicht sprechen kann "und dann ist eine Gesprächstherapie natürlich nicht so einfach möglich". Eine Ärztin bemängelte sogar, dass ich ja noch nicht mal mit ihr telefonieren würde(!). Aus meiner Erfahrung heraus ist es eben besonders wegen dem Mutismus schwer behandelt zu werden. Ich verstehe, dass eine „normale“ Traumatherapie schwierig ist, ohne zu sprechen. Aber es gibt auch Nonverbale Therapien und außerdem würde ich ja mal vermuten, dass sich der Mutismus eben durch die Traumatherapie lösen würde.
Stand 2018
Ein sehr interessantes PDF im Anhang, für alle die mehr über Mutismus als Traumafolge lesen möchten.
https://dissoziation-und-trauma.de/sachinfos/mutismus-als-traumafolge