Der Eiwurf

Stell Dir vor, Du sitzt an einem Montagabend auf dem Sofa und schaust Fernsehen. Die Balkontür steht offen, weil Du auf dem Balkon, vor ein paar Minuten, die Blumen gegossen hast. Plötzlich hörst Du ein lautes Geräusch, etwas fliegt mit hoher Geschwindigkeit an Dir vorbei und klatscht an die Wand. Es war ein rohes Ei! Du bist vielleicht erschreckt, angeekelt und wütend. Dass rohe Ei trieft von Deiner Wohnzimmerwand herunter. …Jetzt bist Du stinksauer, schaust wer es war oder rufst sogar …*füge Schimpfwort Deiner Wahl ein*.

 

Genauso wie Du, erschreckte ich mich. Für mich ist es aber nicht nur eine Sauerei. Denn für die nächsten 30 Minuten lag ich krampfend in den Armen meiner Mutter, die versuchte, mir zu sagen, dass ich in Sicherheit bin und mir niemand etwas antun wird. Von den Krampfanfällen bekomme ich alles mit. Ich merke, wie schmerzhaft die Muskelkontraktionen sind und wie mir der Sabber das Kinn herunterläuft. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis meine Muskeln sich etwas lösten. Nun war ich komplett erstarrt, ich bekam alles mit, sogar meine Augen konnte ich nicht bewegen. Eine weitere Stunde lag ich völlig ausgeliefert und bewegungsunfähig auf dem Sofa.

 

Natürlich fragt sich jetzt jeder: Wer kommt eigentlich auf die absurde Idee mit einem Eierkarton durch ein Wohngebiet zu laufen und unbeteiligte Menschen zu bewerfen? Ok, das war jetzt blöd, aber das Leben geht weiter oder? Nein, denn die treffsicheren Ei-Werfer können nicht wissen, dass ich wegen vielen Traumata aus der Kindheit und Jugend schwer traumatisiert bin. Sie können nicht wissen, dass ich seit ungefähr drei Jahren meine Wohnung aus panischer Angst vor Menschen nicht mehr verlasse. Sie können nicht wissen, dass ich bei belastenden Ereignissen eine Panikattacke bekomme, erstarre, krampfe und/oder Persönlichkeiten wechsel. Sie können nicht wissen, dass ich voller Angst bin, wenn ich durch meine geschlossenen Fenster draußen Menschen sehe. Die Blumen auf dem Balkon sind meine selbst verschriebene „Konfrontationstherapie“, damit ich auf den Balkon gehen muss – selbst das kann ich nur in Begleitung tun.

 

Für mich ist es kein einfacher Scherz! Dieser Vorfall hat einen Rattenschwanz. Ich bin vor kurzem in diese barrierefreie Wohnung eingezogen, da ich von der Traumatisierung so sehr belastet bin, dass nur aus psychischen Gründen meine Beine gelähmt sind. Für eine traumatisierte Person, wie ich es bin, ist ein „sicherer Ort“ unbeschreiblich wichtig. Mich wohl und sicher in meiner Wohnung zu fühlen, habe ich mir hart erkämpft. Diese Sicherheit wurde mir genommen. Ob ich mich wieder auf meinen Balkon traue? Ich weiß es nicht! Traue ich mir es wieder zu, alleine in meiner Wohnung zu sein und dabei die Gardinen offen zu haben? Unbestimmt! Habe ich nun noch mehr Angst vor fremden Menschen? Definitiv! Wird es für mich noch schwerer rauszugehen und fremden Menschen zu vertrauen? Ganz bestimmt!

 

Ich bin 25 Jahre alt, ich habe eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, schwere Dissoziative Störungen, Angststörung/Phobien, eine Essstörung, Zwänge, chronische somatische Schmerzen und ich bin schwer depressiv und passiv suizidal. Das ist kein Scherz!

 

Ich wünsche mir, dass dieser Beitrag geteilt wird. Die Ei-Werfer wird es sicherlich nicht erreichen, aber vielleicht sieht dies jemand, der gerne „Scherze“ macht. Ich bin entsetzt und verängstigt. Ich bin froh für jeden Menschen, der diese Gefühle nicht nachvollziehen kann, denn das heißt für mich, dass ihm nie etwas wie mir passiert ist, das solche chronischen Langzeitfolgen hat. Bitte überlegt Euch genau, bevor ihr handelt. Eure Taten haben Konsequenzen!

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