Ich habe ja schon sehr lange keinen Blogbeitrag mehr geschrieben und ich dachte auch nicht, dass ich das nochmal tun würde. Aber die Tage habe ich über etwas nachgedacht, das ich doch nochmal teilen möchte. In einer Facebook Gruppe fragte mich jemand, wie ich mit der Trauer über den Verlust von Fähigkeiten, Selbstständigkeit und Lebensqualität umgehe. Ich habe mir gleich gedacht, dass das eine gute Frage ist, über die es sich lohnt nachzudenken.
Meine Antwort war: „Ich finde es wichtig der Trauer erstmal Platz zu geben. Der Verlust von Fähigkeiten und Lebensqualität macht natürlich traurig und das ist völlig berechtigt. Mir tut es gut, das nicht einfach wegzudrücken und ich habe gelernt, Mitgefühl mit mir selbst zu haben, nicht zu verwechseln mit Selbstmitleid. Mir tut es auch gut, wenn ich mit jemanden darüber reden kann, die mich ernst nimmt und meine Trauer nicht kleinredet.“
Trauer ist ein emotionaler Zustand, der aus ganz unterschiedlichen Gründen da ist. Am ehesten verbindet man Trauer ja mit einem Todesfall, aber Trauer empfindet man auch bei vielen anderen Verlusten oder unerfüllten Sehnsüchten. Ich persönlich trauere nicht um einen anderen Menschen, sondern um ganz viel verlorene Lebensqualität, körperliche Fähigkeiten und um unerfüllte Wünsche. Diese Art von Trauer wird im Lauf der Zeit nicht weniger, weil meine Krankheit ja auch nicht besser wird, eher im Gegenteil. Sie sucht sich ihren Weg, flammt auf, flaut ab, aber es wird mit der Zeit nicht leichter.
Die eigentliche Frage war ja, wie ich mit der Trauer umgehe. Der Verlust meiner Gesundheit und Selbstständigkeit fing ja schon vor neun Jahren an. Zu der Zeit war ich einfach nur verwirrt und wusste nichts mit mir und der Situation anzufangen. Die Trauer kam erst einige Jahre später, als ich merkte, dass meine Erkrankung chronisch ist. Keine meiner damaligen Therapeutinnen hat jemals mit mir über das Thema Trauer gesprochen. Seit es mir körperlich so schlecht geht, habe ich mit Ärzt*innen, Therapeut*innen und Ämtern fast ausschließlich schlechte Erfahrungen gemacht. Ich wurde abgelehnt, im Stich gelassen, nicht ernst genommen, unverstanden, nicht respektiert, missachtet. Zunächst habe ich versucht, die Situationen sachlich und nüchtern zu betrachten. Ich habe immer deutlicher wahrgenommen, wie unfair ich behandelt wurde und wie einfach sich die Fachleute das mit mir gemacht haben. Wie wenig manche Leute mein Schicksal interessiert und wie sie sich hinter Paragraphen, Sachzwängen und Ausreden versteckten. Oft war ich darüber völlig geschockt und wie gelähmt. Mit der Zeit konnte ich immer besser fühlen, wie sehr mich das verletzt hat und ich entwickelte immer mehr Selbstwahrnehmung und Mitgefühl für mich selbst. Das bedeutet auch, dass meine Selbstachtung gewachsen ist: mir ist bewusst geworden, dass ich ein Recht darauf habe, von anderen geachtet zu werden.
Früher wäre an so eine Aussage gar nicht zu denken gewesen. Statt Selbstachtung war eher der Selbsthass die vorrangige Empfindung. Ich habe immer noch kein wirklich gutes Selbstbild, aber es ist ausgewogener geworden. Ich weiß nicht, ob ich das lustig oder traurig finden soll, aber diese Entwicklung hin zu mehr Selbstachtung ist erst in Gang gekommen, nachdem ich diese massive Ablehnung von allen Seiten erfahren habe. Als mich niemand ernst genommen hat, habe ich angefangen mich selbst ernst zu nehmen. Ich akzeptiere immer weniger simple Ausreden und Entschuldigungen. Ich orientiere mich mehr an anderen Aktivist*innen für Behindertenrechte.
Ich habe das Gefühl, dass ich auf meinem Weg viel weitergekommen bin, seit ich keine Therapie mehr habe. Ich weiß nicht, ob ich in meinem Selbstbild auch da angekommen wäre, wenn ich weiterhin Therapie erfahren hätte. Ich möchte aber auch die Therapeut*innen nicht entschuldigen, denn das Aufgeben kann ja nicht Sinn und Zweck gewesen sein. Ständig von Therapeut*innen zu hören, dass ich nicht ins Konzept passe, dass meine Erkrankung zu komplex ist, dass keine Aussicht auf Verbesserung besteht usw. war und ist verletzend und durchaus traumatisch.
Mein psychischer Zustand hat sich zwar deutlich verbessert, aber körperlich geht es mir trotzdem immer schlechter, da hilft auch das Mitgefühl nichts.
Selbstmitgefühl zu haben bedeutet aber nicht, sich selbst zu bemitleiden. Mitgefühl ist ein Ausdruck von Achtung und Respekt, Mitleid macht klein und machtlos. Ich versuche so wenig wie möglich zu jammern und meistens gelingt mir das auch.
Die Trauer um Verlorenes oder auch über alles was ich mir für mein Leben gewünscht hätte ist immer da, mal sehr präsent, mal mehr im Hintergrund. Wenn die Trauer sich so in den Vordergrund drängt, dann darf sie erstmal da sein. Es tut mir gut, wenn meine Mutter mir zuhört. Sie versucht nicht, mir meine Trauer auszureden oder mich zu trösten, sondern sie ist einfach da und sitzt mit mir in dieser Situation und lässt mich einfach „sein“. Nur so kann ich dem Gefühl Raum geben, dass das alles wirklich traurig ist.
Kommentar schreiben
Blauer Vogel (Dienstag, 28 September 2021 20:30)
Danke! Danke genau diese Worte, alle Details! Wenn endlich ein paar wenige Tränen kommen, welche Erleichterung berührt zu sein und mein Ringen wieder zu erkennen. Danke
Kat (Mittwoch, 27 April 2022 17:12)
Ich hab vor ca. einem Jahr deinen/euren Blog gefunden und habe euch damals zwei Mails geschrieben. Ich dachte ich schau mal ob es seitdem neue Einträge gab und bin sehr froh das hier gelesen zu haben!
Der Eintrag ist zwar schon ein paar Monate her, aber ich hoffe dass ihr auf diesem guten Weg geblieben seid. Wenn man erstmal genug Frustrationstoleranz (für Rückfälle und co.) entwickelt hat - und dafür ist Selbstmitgefühl die Grundvoraussetzung - dann geht es meiner Erfahrung nach langsam aber stetig bergauf. Die positive Seite der Arbeitsunfähigkeit ist (ironischerweise) dass man all die Zeit zum heilen hat. Wie schon letztes Mal, hat es mir wieder sehr geholfen zu lesen dass ich nicht allein mit den Problemen im Gesundheitssystem bin.
Ich finde es toll dass du dich in dem Bereich aktivistisch vernetzt! Ich möchte das auch eines Tages machen.
Jaani (Mittwoch, 20 September 2023 11:49)
Was für eine Freude, Dich wiederzulesen!
Vieles von dem was Du seit 2022 beschreibst und reflektierst, kenne ich selbst sehr gut und ich möchte fast sagen, dass wir ähnliche Situationen, Erfahrungen und Erkenntnisse gewonnen haben und hatten, obwohl Dein und mein Leben anders sind aber durchaus Parallelen haben. Das auf sich allein begrenzte Leben, das Gefühle ausdrücken, die Missachtung und das Aufgeben durch die Psycho-Spezialisten usw. Ich habe häufig darum gekämpft, dass meine Art des Empfindens sein darf und Berechtigung hat und nicht klein geredet, weggeredet oder überredet wird von anderen, nur weil es für Andere unbequem oder zu intensiv war. Johanna ich finde es wunderbar zu lesen was Du schreibst, ich fühle mich Dir sehr nahe. Vielen Dank das Du BIST (Form von Sein)